Bei seiner Tour durch die Region Augsburg besuchte Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, gemeinsam mit Ulrike Bahr, MdB, viele spannende Einrichtungen. Der Tag gipfelte in einem Fachgespräch im Zeughaus mit rund 50 Betroffenen und Fachleuten aus der Praxis. „Inklusion ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft“, erklärte die Augsburger Abgeordnete und Vorsitzende des Familienausschusses.
„Demokratie braucht Inklusion.“ Das ist das Motto von Jürgen Dusel. Er ist Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Hinter diesem komplexen Titel verbirgt sich eine nicht minder komplexe Aufgabe: echte Inklusion voranbringen. Seine Werkzeuge sind Teilhabeempfehlungen an die Bundesregierung. Wenn Jürgen Dusel von Inklusion spricht, ist das nicht nur deshalb besonders authentisch, weil er selbst Betroffener ist. Von Geburt an ist er stark sehbehindert. Es ist aber auch deshalb authentisch, weil er diese Aufgabe sehr ernst nimmt, große Freude daran hat und die Menschen mitnehmen möchte. Dafür ist er viel unterwegs und tauscht sich aus: mit Bürger:innen mit Beeinträchtigungen, mit Trägern und Betreiber:innen, mit Ideengeber:innen, mit Expert:innen.
Ein solcher Austausch fand nun auch in Augsburg statt – auf Einladung der örtlichen SPD-Bundestagsabgeordneten Ulrike Bahr. Einen ganzen Tag führten die beiden interessante Gespräche zum Thema Inklusion und stellten dabei einmal mehr fest: Die Region ist voller engagierter Menschen. Mit von der Partie waren zeitweise die SPD-Lokalpolitiker:innen Volkmar Thumser (Bezirkstag), die gehörlose Bezirkstagskandidatin Heike Heubach sowie die Stadträt:innen Anna Rasehorn, Dr. Florian Freund (beide Augsburg) und Kristina Kolb-Djoka (Aichach).
Der erste Termin führte Bahr und Dusel gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen nach Aichach. Dort stand ein Gespräch mit Schulleitung, Aufsichtsrat und Vorstand der Lebenshilfe an. Das Angebot richtet sich an Kinder wie auch Erwachsene. Vor Ort finden sich das Kinderhaus und die Elisabethschule, Heil- und Sonderpädagogische Tagesstätten, verschiedene Wohngruppen sowie eine besondere Einrichtung, die Menschen mit Autismus eine Tagesstruktur geben will. Im Gespräch mit Schulleiter Klaus Steinhardt, Konrektorin Johanna Hanser sowie Ingeborg Minnich vom Aufsichtsrat und Stadträtin Kristina Kolb-Djoka erfuhren die Besucher:innen mehr über Alltag, Wünsche und Herausforderungen der Lebenshilfe.
Ein großes Lob ging an die Stadt Aichach und die dort lebenden Bürger:innen, die sehr viel Herz und Offenheit beweisen. Eine große Herausforderung dagegen sei es, entsprechend qualifizierte Lehrkräfte zu finden. Auf etwa 170 Kinder an der Elisabethschule kommen 90 Mitarbeiter:innen, davon sind 30 Lehrkräfte und nur die Hälfte davon haben eine sonderpädagogische Ausbildung. Hier wünschten sich alle Beteiligten mehr Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie einheitliche Zuständigkeiten.
Weiter ging es nach Augsburg und auf das Christian-Dierig-Gelände. Dort befindet sich die Tagesstätte für seelische Gesundheit der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Augsburg. Der Besuch startete mit einem Austausch mit den Klient:innen und ging über in einen Rundgang durch die hellen, freundlichen Räumlichkeiten. In verschiedenen Bereichen können sich die Betroffenen mit kleinen Tätigkeiten einbringen und so etwas Geld dazuverdienen. Es gibt aber auch einen Kreativraum, Kicker und Billard sowie verschiedene Gruppen- und Freizeitangebote. Alles kann, nichts muss. Das multiprofessionell aufgestellte Team steht den Klient:innen jederzeit für ihre Anliegen oder Nöte zur Verfügung. Jürgen Dusel nahm vor allem drei Punkte für seine Arbeit mit: gegen die Stigmatisierung angehen, Zuverdienstgrenzen prüfen und Wartezeiten für Therapieplätze verkürzen.
Zur Mittagspause gab es im Café Cabresso in der Gögginger Straße nicht nur Leckereien aus der Küche, sondern auch ein lebendiges Gespräch über die verschiedenen Facetten von Inklusion. Das Café ist ein Werkstattbetrieb, in dem auch Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten. Entsprechend ging es beim Austausch, an dem neben Herbert Kratzer und Stefan Eser von der Caritas auch ein Mitarbeiter teilnahm, vornehmlich um den Arbeitsmarkt für Betroffene.
Nicht minder beeindruckend ist das Projekt „Villa Hammerschmiede“. Eltern haben hier den Verein „Gemeinsam Wohnen mit Handicap“ gegründet, um für ihre erwachsenen Kinder eine Wohnform zu schaffen, in der sie so eigenständig wie möglich leben können. Die Eltern fungieren zusammen mit der AWO Augsburg als Gesellschafter für ein Haus mit 22 Apartments. Jede:r Bewohner:in ist eigenständige:r Mieter:in eines barrierefreien Apartments mit Wohn-Schlaf-Raum, Küche und Bad. Leistungen der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe sind integriert und können von den Bewohner:innen je nach ihren Bedürfnissen beauftragt und vereinbart werden. Die AWO steht mit ihren verschiedenen Diensten wie Ambulanter Pflege, Tagespflege und Betreuung bereit – so ist immer ein Ansprechpartner vor Ort.
Von Vorstand Dr. Gerhard Stumpf, Vereinsmitglied Karl-Heinz Schwigon sowie dem früheren AWO-Geschäftsführer Eckard Rasehorn und dem jetzigen Michael List erfuhr Jürgen Dusel mehr über Entstehung, Hürden und Erfolg des Projektes. Und er zeigte sich beeindruckt von diesem innovativen Konzept, den institutionellen Charakter soweit wie irgend möglich zurückzunehmen und dennoch die nötige Sicherheit für die Bewohner:innen zu gewährleisten. Die Bewohner:innen, die zuvor Jahrzehnte bei ihren Eltern gelebt haben, haben ihr neues Zuhause sofort als ihr „daheim“ angenommen.
Zurück im Wahlkreisbüro von Ulrike Bahr warteten schon die nächsten Gesprächspartner:innen. Michael und Margarita Fürmann haben das Start-up Mivao gegründet. Ihr „Produkt“, das sie entwickeln, ist eine App für Autist:innen, die Betroffenen bei der Strukturierung des Tages helfen soll. Die beiden Gründer:innen wünschen sich für solche sozialen Projekte, die nicht auf ein schnelles Wachstum und große Gewinne abzielen, bessere und nachhaltige Förderungen vom Staat.
Um eine solche Unterstützung ging es auch im zweiten Gespräch, mit dem Team vom Hotel Einsmehr. Jochen Mack, Volkmar Thumser und Ingrid Schieb stellten ihre Qualifizierungsoffensive vor. Diese soll Menschen mit Behinderung, die im Hotel arbeiten, binnen weniger Monate für einen möglichen Einsatz auf dem ersten Arbeitsmarkt im Gastronomiegewerbe vorbereiten. Da es sich aber um keine klassische Ausbildung handelt, wird diese auch nicht finanziert. Das überaus interessante Konzept nahm der Behindertenbeauftragte mit nach Berlin und zeigte sich beeindruckt von diesen tollen Innovationen und Initiativen.
Der Tag gipfelte schließlich in einem Fachgespräch über gelebte Inklusion, an dem rund 50 Personen teilnahmen, darunter Betroffene, Träger, Fachleute sowie Vertreter:innen des Behindertenbeirats der Stadt Augsburg. Und so vielfältig die Menschen und ihre Beeinträchtigungen sind, so vielfältig waren auch die Themen, die den Besucher:innen auf dem Herzen lagen. Einer der Schwerpunkte war erneut die Teilhabe am Arbeitsleben. Hierbei wünschen sich viele mehr Unterstützung und mehr Möglichkeiten. Dusel betonte: „Wir müssen besser werden! Es gibt etwa 1,3 Mio. Menschen, die schwerbehindert sind und einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen. Aber im Schnitt sind diese häufiger und länger arbeitslos. Und das, obwohl die Wirtschaft nach Fachkräften schreit.“ Ebenso wichtig seien aber auch barrierefreier Wohnraum und ein ÖPNV ohne Hürden. „Inklusion ist ein Qualitätsstandard für ein modernes Land“, führte Dusel weiter aus. Es mache keinen Sinn, Barrieren zu bauen. Barrierefreiheit müsse vielmehr Standard sein. Zum Abbau der Hürden zähle zudem die Bürokratie. So müssen taube Menschen zum Beispiel immer wieder ihre Gehörlosigkeit nachweisen, um Leistungen zur Kommunikation zu erhalten. Ein Unding sei das, erklärte der Behindertenbeauftragte und sagte den Betroffenen zu, für eine zügige Lösung zu werben.
Das schwierigste sei aber, eine echte Inklusion umzusetzen, sodass Menschen mit und ohne Behinderung wirklich gemeinsam lernen, leben, arbeiten. Ein wichtiger Grundstein dafür sei, dass das Thema verstärkt in die Ausbildungen komme, beispielsweise von Lehrer:innen, Therapeut:innen oder Hebammen. Immerhin könne man aber schon einige Erfolge feiern, meint Dusel. So wurde der Wahlrechtsausschluss für Menschen mit Betreuung gekippt. Nun können auch diese gleichberechtigt mitwählen. Auch die Vergünstigungen im Steuerrecht haben sich deutlich verbessert. Und Betroffene mit Assistenz-Bedarf haben nun auch im Krankenhaus ein Anrecht auf Unterstützung.
Ulrike Bahr bedankte sich abschließend bei allen Teilnehmer:innen für ihre offenen Worte sowie ihre Hinweise und Anregungen, und bei Jürgen Dusel für diesen interessanten Tag. Für ihre Arbeit als Vorsitzende des Familienausschusses, in dem das Thema Inklusion eine wichtige Rolle spielt, könne sie viel mitnehmen. Sie freue sich auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit in Augsburg und Berlin. „Inklusion ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Denn nur gemeinsam schaffen wir es, dass es endlich zur Selbstverständlichkeit wird, wirklich alle Menschen gleichermaßen am Leben teilhaben zu lassen“, erklärte die Augsburger Abgeordnete.
Bildnachweise: Sandra Gerold/Büro Ulrike Bahr