Die Türkei ist etwas Besonderes, nicht nur aufgrund ihrer geostrategischen Lage, sondern auch deswegen, weil rund 3 Millionen Menschen in Deutschland Verwandte in der Türkei haben. „Die Türkei geht uns also etwas an und deswegen mischen wir uns ein“, sagte der Bundestagsabgeordnete Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in Augsburg.
Die Augsburger SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr hatte im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Fraktion vor Ort“ zu der Diskussionsveranstaltung „Das Referendum in der Türkei und seine Folgen“ eingeladen. Rund 60 Gäste waren der Einladung gefolgt.
Ulrike Bahr führte ins Thema ein und sagte unter anderem: „Alle türkischen Gruppierungen und Minderheiten gibt es auch in Deutschland: Kurden, Aleviten, Anhänger der Gülen-Bewegung genauso wie glühende Verehrer von Präsident Erdoğan. Auch hier in Augsburg erfahre ich das immer wieder in der alltäglichen Begegnung. Hier leben mehr als 21.000 Menschen türkischer Herkunft. Auch bei uns in der SPD sind etliche von ihnen aktiv. Es kann es uns nicht egal sein, wenn sich die Türkei von Europa abwendet“. Niels Annen ging kurz auf die Vorgeschichte des aktuellen spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen Deutschland und der Türkei ein. „Vor Jahren hat die Türkei, damals schon unter Erdogan, Reformen durchsetzen wollen, um die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu schaffen. So wurde etwa die Todesstrafe abgeschafft. Trotz dieser Reformen bekam die Türkei nur die sogenannte privilegierte Partnerschaft und keinen EU-Beitritt. Das hat in der Türkei zu Frustrationen geführt“, so Annen. Erdogan hätte der EU den Vorwurf gemacht, doppelte Standards zu nutzen. Kroatien etwa habe seinen Antrag später gestellt, sei aber früher in die EU aufgenommen worden. „Die Bemühungen der Türkei wurden also nie richtig anerkannt. SPD hat sich immer dafür eingesetzt, die Türkei nicht anders zu behandeln, als andere Kandidaten. Und die Konservativen haben eine Mitschuld daran, dass der Reformschwung in der Türkei nicht weiterging und es dort jetzt die neue osmanische hegemoniale Bewegung gibt“, führte Annen aus. Annen plädierte dafür, dass die Türkei in der Nato bleiben solle. „Wenn es schon schwierig ist mit der Türkei in der Nato, dann wird es doch auf keinen Fall einfacher, wenn die Türkei nicht in der Nato ist! Und wir brauchen die Türkei, auch gerade in Bezug auf den Syrienkonflikt“, so Annen.
Deutschland und die EU befänden sich also in einem Dilemma. Aufgrund der Entwicklungen der vergangenen Monate sei ein EU-Beitritt in weite Ferne gerückt. „Früher hatten wir immer die Haltung der Türkei gegenüber „Wie können wir helfen?“ – heute müssen wir die vielen kritischen Punkte klar aussprechen. Und am Ende wird unsere Beziehung eine pragmatische sein. Denken Sie an Saudi-Arabien oder andere Länder. Auch mit denen pflegen wir Beziehungen, obwohl wir deren Gesellschaftsbild nicht teilen“, fuhr Annen fort.
In der sich anschließenden Diskussion wurden die Kurdenfrage, Ditib, Incirlik, Waffenlieferungen oder der Tourismus angesprochen. „Ich persönlich finde, die Deutschen sollten weiterhin in der Türkei Urlaub machen. Viele touristische Zentren sind Hochburgen der politischen Opposition, die können davon profitieren“. Bezogen auf die Erziehung und Bildung der in Deutschland lebenden Türken plädierte Niels Annen für Lehrstühle für Imame in Deutschland und deutsche Lehrpläne für den muttersprachlichen Unterricht.
Vor einer Öffnung der Grenzen für syrische Flüchtlinge, wie Erdogan das androhe, müsste sich die EU nicht fürchten, meinte Annen. „Die Türkei hat extrem viel für syrische Flüchtlinge getan. Schätzungsweise 2 Millionen Syrer leben in der Türkei, davon nur 10 Prozent in Flüchtlingsunterkünften. 90 Prozent haben Wohnungen, Arbeit und sind integriert. Es ist unwahrscheinlich, dass die sich im Fall einer Grenzöffnung auf den Weg machen würden“.