„Die Herausforderungen unserer Arbeit hier ist der Spagat zwischen Überbemutterung und Überforderung, wenn wir mit minderjährigen Flüchtlingen zusammenleben und sie auf dem Weg in die Selbständigkeit begleiten“, sagte Dr. Martin Proißl im Gespräch mit Ulrike Bahr. Die Bundestagsabgeordneten besuchte im Rahmen des Projekts „Rollentausch“ die sogenannte Zentrale Inobhutnahme-Einrichtung (ZIE) für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMFs) der AWO Augsburg, wo sie der Einrichtungsleiter von AWO Jugendwohnen, Dr. Martin Proißl, durch das Haus führte.
Aktuell wohnen 23 junge Männer in der Einrichtung, sie stammen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, Somalia und Eritrea. Wer neu nach Deutschland gekommen ist, der durchläuft die ersten drei Monate ein sogenanntes „Clearing“, bei dem verschiedene Erzieher, Psychologen und Lehrer den Flüchtling beobachten und befragen – etwa nach der Fluchtgeschichte, nach den Vorkenntnissen oder nach möglichen psychischen Problemen. Danach wechseln die Flüchtlinge in die Wohngruppen mit je fünf Jugendlichen, wo sie von einem Bezugserzieher betreut werden. Er hilft auch bei der Kontaktaufnahme zu den Behörden und zur Schule.
Alle Flüchtlinge des Wohnheims gehen zur Schule, die meisten in die Berufsschulen der Stadt. „Wir haben hier sehr bildungshungrige und hochmotivierte junge Männer, die unsere Lernangebote, die wir hier im Haus zusätzlich zur Berufsschule anbieten, sehr gerne annehmen“, berichtete Proißl.
Probleme wie in anderen Städten gab es in der AWO-Einrichtung nicht. „Ich bin sehr stolz auf dieses Haus“, sagte Proißl. „Wir erreichen die Jugendlichen, wir haben hier keine Probleme mit Gewalt, Diebstählen, Schlägereien oder Suizid. Auch mit Salafismus haben wir hier kein Thema, darüber bin ich wirklich froh“. Die Psychologin Anna Keppner betreut solche jungen Männer, die kleinere psychische Probleme wie Schlafstörungen oder eine ständige schmerzhafte Körperspannung haben. „Bei manchen Geflüchteten kommen die Traumata auch zeitversetzt, wenn sie schon ein paar Monate hier in Sicherheit sind“, berichtet die Fachfrau vom psychologischen Fachdienst. Für viele Jugendliche ist die Sorge um die Angehörigen in der Heimat ein Thema, das besprochen werden muss, damit sie sich hier auf ihre Aufgaben in der Schule und ihrem neuen Alltag konzentrieren können.
Themen, über die in dem Wohnheim viel gesprochen wird, sind die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und die Trennung von Staat und Religion. „Anfangs nicken zwar alle zustimmend, wenn ihnen erzählt wird, dass diese beiden Regeln in Deutschland herrschen. Aber tatsächlich dauert es eine ganze Weile, bis ihnen klar wird, was das bedeutet“, berichtet Martin Proißl. Der promovierte Soziologe und sein Team haben deswegen regelmäßig Info-Abende veranstaltet. Auch die vielen Ehrenamtlichen, die das Team unterstützen, sind bei der Vermittlung von Sitten, Regeln und Gebräuchen, wie sie in Deutschland vorherrschen, wichtig. „Das Augsburger Freiwilligenzentrum ist für uns eine riesige echte Hilfe – dass wir hier Ehrenamtliche haben, die sich mit viel Zeit und Engagement den einzelnen jungen Männern widmen, ist ein großes Geschenk für uns“, so Proißl.
Aktuell beschäftigt Proißl der Vorschlag von Ministerpräsident Horst Seehofer, die Qualität bei der Betreuung von geflüchteten Kindern und Jugendlich massiv abzusenken. So soll die Unterstützung mit dem 18. Geburtstag enden und der Schlüssel der Jugendhilfe, der aktuell bei 1 zu 3 steht, soll auf 1 zu 10 vermindert werden. „Das wäre für unsere Arbeit eine Katastrophe, da gerade diese jungen Leute mit ihrer besonderen Geschichte die intensive Betreuung brauchen“, bewertet Proißl den Vorschlag.
Ulrike Bahr sagte im Anschluss an zwei aufschlussreiche Stunden in der Einrichtung, sie sei beeindruckt von der guten professionellen Arbeit von Proißl und seinem Team. „Ich freue mich über die gute Atmosphäre, die ich hier zwischen Flüchtlingen und ihren Betreuern wahrnehmen konnte. Niemand darf verloren gehen – dieser Leitsatz gilt auch für Kinder und Heranwachsende, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Martin Proißl und sein Team leisten einen wichtigen Beitrag zur Integration, den ich sehr wertschätze“, so Ulrike Bahr. Die vielen Details, von denen sie gehört habe, nehme sie auch gerne mit ins politische Berlin. Den bayerischen Vorschlag lehne sie deutlich ab: „Bayern darf das SGB VIII für Flüchtlinge nicht einfach so aufweichen, nur weil der Ministerpräsident sparen will!“