Lebenspraktisch und visionär

23. Februar 2016

Das politische Berlin auf einer Abgeordnetenfahrt mit Flüchtlingshelfern aus Augsburg und Königsbrunn. Impressionen und Fotos von Angelika Lonnemann.

Zu einer Fahrt ins politische Berlin hatte Ulrike Bahr 49 Menschen aus ihrem Wahlkreis 252 eingeladen. Die Teilnehmer, hauptamtlich oder ehrenamtlich mit Flüchtlingen beschäftigt, bekamen mit einem toll vorbereiteten und straff durchgetakteten Programm viele Eindrücke einer spannenden Stadt und der Arbeit von Politikern. Stationen waren unter anderem die SPD-Zentrale im Willy-Brandt-Haus, der Bundestag und das Bundeskanzleramt.

Baumschließer, Darmschleimerei, Denkmal des unbekannten Kaninchens. Wowereit heißt auf litauisch Eichhörnchen, die Kiefern auf dem Grundstück des BND-Neubaus haben einen eigenen Baumpsychologen, der Weinberg auf dem Grundstück der hessischen Vertretung besteht aus einigen Weinstöcken auf erhabener Rasenplatte und hat eine Million Euro gekostet. Viele unterhaltsame, lehrreiche und skurille Informationen bekamen wir von der Mitarbeiterin des Bundespresseamtes Andrea Würdemann, die uns auf allen Busfahrten zwischen den Stationen unseres Berlin-Aufenthalts begleitete und mit liebevoller Strenge dafür sorgte, dass wir überall pünktlich ankamen. Sie zeigte uns viele ihrer Lieblingsorte, so etwa die Kreuzung, an der sich die Axel-Springer- und die Rudi-Dutschke-Straße treffen. Lebendig wusste sie von Schlafburschen zu erzählen, die in den Arme-Leute-Wohnungen im dritten Hinterhof am Tage Betten mieteten, weil sie nachts Schicht arbeiteten. Eindringliche Erzählungen zur Geschichte aller Phasen Berlins von der ersten Besiedelung vor rund 800 Jahren bis zur Nazi- und DDR-Zeit machten Lust auf mehr – und man wurde angeregt, bei seinem nächsten Berlinbesuch noch viele andere spannende Dinge zu erkunden, weil man vieles aus dem fahrenden Bus nur ein paar Sekunden erhaschen konnte.

Bei der von uns besuchten Plenarsitzung im Bundestag wurde schnell klar, dass nicht nur globale Krisen und populäre Themen den Bundestag beschäftigen, sondern auch ganz reelle Nöte des bürgerlichen Alltags. Der erste Redebeitrag, den wir hörten, war der Appell einer Abgeordneten, den Inkontinzenzbindenzuschuss zu erhöhen. Später ging es unter anderem um den VW-Abgasskandal. Oliver Kriescher, Abgeordneter der Grünen, rechnete frech und polemisch mit Verkehrsminister Alexander Dobrindt und dessen vermeintlichem Nichtstun ab. Anstelle eines Doping-Tests für Autos forderte Kriescher einen Drogentest für Dobrindt, da dieser ja offensichtlich „schon zum Frühstück etwas geraucht“ habe.

Anschließend erzählte uns Ulrike Bahr lebendig und spannend von ihrer Arbeit zwischen Wahlkreis und Sitzungswochen, erläuterte auch die unterschiedliche Anwesenheitsdichte der Abgeordneten im Plenarsaal, die manchen Besucher erstaunt hatte. „Es ist die Regel, an Sitzungstagen nicht von morgens bis spät abends im Saal zu sein, sondern auch außerhalb des Plenarsaals an seinen Themen zu arbeiten. Finden wichtige Abstimmungen statt, dann werden die Abgeordneten von ihren Mitarbeitern angefunkt und eilen dann in den Saal, um abzustimmen“, so Bahr. Sie sprach über Fraktionssitzungen mit 189 Fraktionskollegen, den Familienausschuss und erzählte von einem neuen Unterausschuss zum Thema „Bürgerschaftliches Engagement“. Auch die neue SPD-Kampagne „Meine Stimme für Vernunft“ stellte sie uns vor.

Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales gab uns der Mitarbeiter René Jaruzalski einen Überblick über die Geschichte des Kleisthauses, in dem wir uns befanden und portraitierte dann die Arbeit des Ministeriums, das mit 130 Milliarden Euro den größten Anteil am Bundesetat (aktuell 317 Milliarden Euro) hat.

Im Willy-Brandt-Haus versammelten wir uns unter der berühmten Brandt-Skulptur für ein Erinnerungsfoto und bekamen dann einen flotten Imagefilm über die SPD gezeigt. Darin wurden die Geschichte des Arbeitskampfs, die Visionen und Erfolge der ältesten parlamentarisch vertretenen Partei Deutschlands verknüpft mit einigen beispielhaften Lebensläufen gestandener heutiger Genossen. In dem darauf folgenden Gespräch mit Philipp Geiger wurden wir aufgefordert, unsere Themen, Ideen und Anregungen nicht nur an unsere lokalen Abgeordneten, sondern gerne auch an die Parteizentrale weiterzugeben.

Hotel und Verpflegung wurden von vielen Seiten gelobt, ein Highlight im wahrsten Sinne des Wortes war das Mittagessen auf dem Fernsehturm am Alex. Hier vergaß eine Augsburger SPD-Ortsvereinsvorsitzende den Rinderbraten zu essen, weil sie ununterbrochen und euphorisch aus dem Fenster sah. Auch die familiäre Atmosphäre und die leckeren Spezialitäten von „Gianni“ in der Stephanstraße werden nachhaltig in bester Erinnerung bleiben.

Verzücktes Staunen und Begeisterung war auch bei etlichen Mitreisenden bei der letzten Station unseres Aufenthalts zu beobachten, als wir am Freitagabend um 19 Uhr als einzige Besuchergruppe im Kanzleramt waren. Nach dem Sicherheitscheck durch Polizisten wurden wir von zwei jungen Mitarbeitern durch das Haus, auf den Balkon und in die Arbeitsräume der deutschen Regierung geführt, beaufsichtigt von Wachpersonal, das anfangs streng schaute, sich später aber freundlich und fachmännisch mit uns über die Kunstwerke unterhielt. („Hier, das müssen Sie auch mal fotografieren, sieht aus wie 'ne Baustelle, ist aber Kunst!“) Raumwirkung, Skulpturen und Gemälde, denen viel Raum zur Verfügung steht und dadurch extrem intensiv wirken können, monochrome Farbflächen und raffinierte Treppenhäuser - ein Erlebnis nur durch das besondere Gebäude. Markus Lüpertz „Philosophia“ schien uns Augsburgern besonders eindringlich in die Augen zu schauen und an ihre Schwester, die verfemte „Aphrodite“, zu gemahnen. Wohl um noch ein zweites Mal zurückzukehren, hatte ein Mann unserer Gruppe seinen Mantel in der Garderobe der Kanzlerin hängen lassen – unseretwegen wurde dann also die absenkbare Mauer im Eingangsbereich noch einmal heruntergelassen und die Lichter gingen wieder an und Mann und Mantel verließen gemeinsam das Grundstück.

„So eine Reise hilft ja durchaus gegen Politikverdrossenheit“, sagte eine Augsburgerin nachdenklich und resümierend bei der Rückfahrt. „Ich bin stolz und begeistert, was wir alles erleben und sehen durften“, sagte eine andere. Viele intensive Gespräche und ein Ideenaustausch für zukünftige gemeinsame Treffen auf der über siebenstündigen Rückfahrt rundeten vier tolle Tage ab. Vielen Dank Ulrike Bahr für die Einladung, für unvergessliche Eindrücke und Erfahrungen und für die Zeit, die Sie sich für uns genommen haben!

Angelika Lonnemann

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